Cover
Titel
Digital Humanities.


Autor(en)
Burdick, Anne; Johanna, Drucker; Peter, Lunenfeld; Todd, Presner; Jeffrey, Schnapp
Erschienen
Cambridge 2012: The MIT Press
Anzahl Seiten
142 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Guido Koller, Sektion Auswertung / Information, Schweizerisches Bundesarchiv

«Two decades ago, working with digital documents was the exception. Today it is the norm» – schreiben Anne Burdick und ihre Co-Autoren in ihrem spannenden Buch vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Es befasst sich mit neuen Methoden und Genres sowie mit Fallstudien wie den Geographischen Informationssystemen (GIS), setzt sich mit dem «sozialen Leben der Digital Humanities» auseinander, konfrontiert uns mit provokativen Thesen dazu und schliesst mit einem praktischen Leitfaden zu diesem aufstrebenden Praxisfeld.

Das Buch wird wohl unseren Blick auf die zukünftige Produktion von Wissen verändern: «The Digital Humanities will revitalize the liberal arts tradition in the electronically inflected, design-driven, multimedia language of the twenty-first century», fassen die Autoren diesen Wandel zusammen. Ihr Buch beschreibt die Instrumente, die notwendig sind, um darin zu bestehen. Aber der weitaus interessanteste Teil sind seine «Provokationen».

Hier ein paar davon:
Vieles sei bereits getan worden zum Aufbau digitaler Speicher und zur Schaffung von Konventionen für den Zugang, die Nutzung und Publikation digitaler Verzeichnisse, Quellen und Textprodukte. Aber der Wechsel von analogen zu digitalen Medien und moderne Web-Technologien werden noch mehr Möglichkeiten wie auch Zwänge nach sich ziehen. Dies erfordere experimentelles Denken und ein Wirken über die digitale respektive analoge Spaltung hinweg. Auch Digital Natives seien mittlerweile bereit, den Unterschied zwischen einem Manuskript, das wir in den Händen halten, und seinem Bild auf dem Schirm, zu anerkennen. Überraschenderweise befürchten nun aber die Autoren, dass Routinen, wie sie sich in diesem gerade erst entstandenen Praxisfeld schon eingeschlichen hätten, die Digital Humanities rasch zu einem Ende kommen lassen könnten.

Um das zu verhindern, seien Innovationen gefragt: neue Modelle der Zusammenarbeit und der Publikation; ein Weg, um Wissen mit neuen Kompetenz-Sets wie Design, Programmierung, statistische Analyse, Datenvisualisierung und Data-Mining zu produzieren. Benötigt würden eigene Programmiersprachen und neue, nicht ausschliesslich quantitative Techniken, wie wir sie heute schon kennen: Interpretatives Mapping, Visualisierung und andere mehr könnten dann unsere Erfahrungen und Analysen der digitalen Welt und analogen Kultur stark verändern.

Für die Autoren sind Tools nicht einfach nur Werkzeuge, sondern kognitive Schnittstellen, die Wissen produzieren und vermitteln und deshalb organisiert werden müssen. Ein genuin geisteswissenschaftliches digitales Toolkit müsse auf jeden Fall mehr können als in der gewöhnlichen digitalen Welt. Das Vertrauen in Computer für die Aggregation, Synthese und sogar Selektivität von Daten werde in den kommenden Jahren wachsen. Wir werden uns wahrscheinlich schon bald mit von Maschinen erarbeiteten Analysen und Zusammenfassungen von Texten befassen, schreiben die Autoren. Sie sind überzeugt, dass dann Computer als «Erweiterung unserer eigenen kognitiven Fähigkeiten» gesehen werden.

In den historischen Wissenschaften, zum Beispiel, werde die Maschine konzeptionelle Filter liefern, die Zugang zu nach bestimmten Kriterien bearbeiteten Aufzeichnungen vereinfachen: Jeder Filter stellt auf unterschiedlichen Ebenen aggregierte Daten für differenzierte Synthesen bereit. Begriffe wie distant reading, Inhaltsmodellierung oder Wissensrepräsentation werden bald ebenso vertraut sein, wie Netzwerk und soziale Medien dies heute schon sind.

Die Autoren gehen davon aus, dass diese Entwicklung bald zu einer «Zweiteilung» innerhalb der Geisteswissenschaften führen wird. Die Protagonisten für Datenanalysen werden jenseits der traditionellen humanistischen Interpretation Aufgaben übernehmen, die den quantitativen Sozialwissenschaften nahekommen. Sie werden Fragen untersuchen, welche viele Forschende als naiv und trivial ablehnen, wie zum Beispiel die quantitative Verbreitung von bestimmten kulturellen Mustern. Auf dem Spiel, so die Autoren, stehe das «einzigartige geisteswissenschaftliche Engagement, mit Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und Komplexität zu ringen». Mit dem immer breiteren Zugang zu digitalen Daten werde diese Zweiteilung immer weiter wachsen.

In den Digital Humanities werden, wie auch Wolfgang Schmale festgestellt hat, Texte immer «flüssiger». Immer öfter arbeiten verschiedene Autoren an einem Textkorpus, Schreiben wird so immer häufiger als ein kooperativer Prozess verstanden. Analytische Tools, die «Fingerabdrücke geistigen Eigentums» extrahieren und mit Algorithmen Kritiken erstellen, werden bald gängige Praxis sein. Unsere Vorstellung vom Dokument wird sich entsprechend anpassen müssen. Es wird, ganz im Sinne von Michel Foucault, sich in ein diskursives Objekt verwandeln, in ein Produkt additiver Interventionen von verschiedenen Autoren.

So weit ein kurzer Schnitt durch die interessantesten Thesen in diesem spannenden Buch. Es wird, wie erwähnt, unseren Blick auf Produktion von Wissen sicherlich verändern. Die Vorstellung der amerikanischen Autoren von einer zukünftigen Zweiteilung der Community entspricht, gemessen an den Debatten an der Hamburger-Konferenz 2012, in etwa der Auffassung in Europa, wo einige Wissenschaftler den Import eines reduktiven, nicht objekt-bezogenen Denkens in die Geisteswissenschaften befürchten und andere die Digital Humanities entweder als Unterstützung für oder sogar als Speerspitze einer vollständigen Transformation der Geisteswissenschaften begrüssen.

Die Autoren teilen die Ansicht von Wolfgang Schmale, wonach Konzepte von Autorenschaft, Dokument und Provenienz immer diffuser werden. Viele würden wohl auch ihrem Befund zustimmen, dass der Begriff des Gelehrten eine Umgestaltung erfahren, dass dieser aufgrund der Zusammenarbeit mit ausseruniversitären Partner vermehrt wie ein Unternehmer handeln wird, wie das heute in den Natur- und Sozialwissenschaften schon oft der Fall ist. Aber die Autoren unterschätzen wohl den Widerstand von Experten, die ihre Identität aus ihrer genuin eigenen beruflichen Tätigkeit gewinnen, und nicht wollen, dass ihre Berufung mit einem von der Computer-Technologie dominierten Profil ersetzt wird.

Es scheint aber, dass das Buch die Bedeutung von Design in den Digital Humanities übertreibt: «Design emerges as the new foundation for the conceptualization and production of knowledge.» Gestaltung ist wichtig, kein Zweifel, aber sie müsste wohl nach wie vor der Funktion folgen. Die Wechselwirkung zwischen Inhalt und Form bestimmt, ob ein Projekt oder Produkt erfolgreich sein wird, und nicht das Design an sich. Aber der Hauptaussage des Buches stimme ich zu: Wenn die Geisteswissenschaften gedeihen und nicht allein in privilegierten Nischen überleben wollen, müssen sie zeigen, was sie für die zukünftige Wissensgesellschaft im digitalen Zeitalter liefern können.

Zitierweise:
Guido Koller: Rezension zu: Anne Burdick, Johanna Drucker, Peter Lunenfeld, Todd Presner, Jeffrey Schnapp: Digital Humanities. Cambridge 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.333-334.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.333-334.

Weitere Informationen